Ein russischer Hilfskonvoi und viele Fragezeichen
Was befindet sich auf den Ladeflächen der rund 280 weiß angestrichenen LKWs, die Russland in Richtung der Ostukraine losgeschickt hat? Humanitäre Hilfe für die zwischen die Fronten geratenen Menschen in der Ostukraine, wie die russische Regierung behauptet? Oder Waffenlieferungen für die prorussischen Separatisten, wie ukrainische Regierungsmitglieder mutmaßen? Darüber besteht bisher noch keine Gewissheit. Und das öffnet den Raum für Spekulationen und Gerüchte. Das gegenseitige Misstrauen sitzt tief. Die Ukraine will die russischen LKWs mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes kontrollieren, bevor sie die ukrainische Grenze passieren. Zudem hat die Ukraine selbst einen Hilfskonvoi in den Osten entsandt. Dazu machen Gerüchte über wiederholte Grenzübertritte russischer Militäreinheiten die Runde. Und die Weltöffentlichkeit starrt gebannt auf die sich immer weiter zuspitzende Lage.
Steuert der Ukraine-Konflikt mit diesen Vorkommnissen, die Florian Rötzer auf Telepolis beschreibt, unaufhaltsam auf den (kriegerischen) Showdown zu? Der russische Hilfskonvoi ist natürlich in gewisser Hinsicht eine Provokation. Zum einen signalisiert er der Ukraine und der weiteren Weltöffentlichkeit: Seht her, wir meinen es wirklich ernst mit den friedlichen Absichten und dem Waffenstillstandsangebot. Zum anderen aber auch: Seht her, die ukrainische Regierung kann sich noch nicht mal ordentlich um die eigene Bevölkerung kümmern, so dass wir helfen müssen.
Frank Lübberding betont auf Wiesaussieht, dass Russland natürlich politische Interessen mit dem Hilfskonvoi verfolge und versuche die ukrainische Regierung bloßzustellen. Doch der Konvoi sei kein trojanisches Pferd, nicht der Versuch einen russischen Militärschlag gegen die Ukraine vorzubereiten, wie mancherorts gemutmaßt wird. Wenn Russland an einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung gelegen sei, so Lübberding, dann hätte es eine solche – zunächst verdeckte – Herbeiführung doch gar nicht nötig. Der Westen habe ganz offensichtlich Wahrnehmungsprobleme. Nicht eine große geopolitische Auseinandersetzung drohe in der Ostukraine, sondern es herrsche ein schrecklicher Bürgerkrieg. Die Denkschablonen eines (neuen) Ost-West-Konflikts und die ganze damit zusammenhängende Propaganda sollten daher schleunigst beiseite gelegt werden, um die Lage in der Ostukraine als das zu begreifen, was sie sei.
Jens Berger beschäftigt sich auf den NachDenkSeiten mit der tendenziösen Berichterstattung des Spiegels, mit der dieser den Ukraine-Konflikt immer weiter schüre. Spiegel Online hatte Gerüchte über den Grenzübertritt einer russischen Militärkolonne, die dann von ukrainischen Truppen zerstört worden sein soll, weitestgehend unverifiziert als Tatsache dargestellt. Durch unscharfe Formulierungen sei zudem billigend in Kauf genommen worden, dass die Leser und Leserinnen des Artikels annehmen mussten, dass es sich bei dem angeblich zerstörten Konvoi um den von Russland entsandten humanitären Hilfskonvoi handelt. Berger fragt sich, ob es sich dabei um eine bloß fahrlässige oder gar mutwillige Täuschung durch den Spiegel handle. Er findet dieses Schüren von Kriegsangst und Hysterie jedenfalls beschämend und wirft dem Spiegel journalistisches Versagen auf ganzer Linie vor.
Auch Heinz Sauren beschäftigt sich auf dem Freigeist BLOG mit den „medialen Kriegswirren“ im Ukraine-Konflikt. Sauren erachtet die etablierten Qualitätsmedien als die großen Verlierer des Konflikts. Anstatt auf Unstimmigkeiten, Widersprüche und Ambivalenzen hinzuweisen – etwa in Hinblick auf die Toten des Maidans, die russische Unterstützung der Separatisten, die westliche Unterstützung der ukrainischen Armee oder die abgeschossene Passagiermaschine MH17 – bezögen sie vorschnell und unverrückbar Stellung für eine der beiden Konfliktparteien. Von journalistischer Gründlichkeit, dem Gebot der gewissenhaften und neutralen Recherche, sei nicht mehr viel übrig. Während die Konfliktparteien sich nach allen Regeln der Kunst der Medien und der sozialen Netzwerke bedienten, wüsste die Presse gar nicht, wie ihr geschehe. Ihre Deutungshoheit sei nachhaltig beschädigt, wenn nicht unwiederbringlich verloren.
Auch Feynsinn sieht den (Qualitäts-) Journalismus am Ende. Gerüchte würden vorschnell als Wahrheiten verkauft, man lasse sich Nachrichten diktieren oder man schreibe einfach ab. Sensationswert gehe vor Wahrheitsgehalt oder nachhaltiger Recherche. Zweifel anmeldende Leser und Leserinnen würden einfach arrogant abgekanzelt und seien höchstens als „dumme Untertanen“ erwünscht.
Was hat es mit dem russischen Hilfskonvoi auf sich? Oder den militärischen Scharmützeln an der Ostgrenze der Ukraine? Gewissheiten sind Mangelware im Ukraine-Konflikt, der die Welt nun schon seit geraumer Zeit in Atem hält. Das ist natürlich nicht neu, Krieg und gewaltsame Auseinandersetzungen erschweren schon immer einen ungetrübten Blick auf die Konfliktverhältnisse. Die Frage ist, ob sich durch die sozialen Netzwerke, deren Nutzung den beteiligten Konfliktparteien offen steht, die Rolle der etablierten Medien tatsächlich nachhaltig wandelt. Nachrichten und Gerüchte verbreiten sich mit rasantem Tempo. Entweder man lässt sich auf dieses Tempo ein und gibt dann möglicherweise journalistische Grundsätze – etwa der Gründlichkeit – preis, oder man überprüft gewissenhaft und läuft dann in Gefahr, nicht mehr gehört oder abgehängt zu werden. Ein schwierig zu lösendes Dilemma.